Teil 1
Die Fahrbahn über Ricken und Sattel war stark vereist, beidseits meterhohe Schneemauern, die noch vor drei Jahrzehnten mit bis zu zwölf von Pferden gezogenen gigantischen Pfadschlitten zur Seite gedrückt worden wären. Die Fahrt erheischte, im Unterschied zum Gotthard, der den Schlaf des Gerechten schlief, volle Konzentration. In Göschenen verlud ich so gegen halb acht auf die Bahn. Ein kräftiger Nordföhn hatte auf der Südseite den Schnee von den Strassen geputzt, und ich kam bereits um neun Uhr auf dem Flugplatz Magadino an.
Wir Fluglehrer nannten sie ‘Tessiner Protuberanzen’. Oberhalb von Tenero wütete wieder einmal ein Waldbrand. Ein trockener Wind arbeitete pausenlos an seinem gespenstischen Bild, liess Flammengarben zum Himmel züngeln und Funkenregen sprühen.
Des ungeachtet lud Oberst Bridel, der hagere, äusserst korrekte Instruktor und Kommandant der ersten Fliegerschule im Jahr 1962, sein Gepäck aus seinem Dienst-Mercedes. «Boskop» nannten wir ihn. Ohne Neckname ging es nicht. Das völlig neu zusammengewürfelte Fluglehrerteam hatte den Auftrag, die Schüler über den P-3 zum Vampire auszubilden. Mit dabei waren auch die Schwarz-Zwillinge. Es gab dieses Unikum – nämlich Zwillingsbrüder als Militärpiloten – tatsächlich. Zapfe, inzwischen Leutnant geworden, traf ein, ebenso wie Tapparel und Corall. Mir wurden Hans Haberschrek und Cornelius Mägerle zugeteilt. Dank Nordföhnlage kamen wir zügig voran. Obwohl meine beiden Schützlinge keine Ausnahmetalente waren, soweit war ich mir bereits sicher, bestanden sie die Kontrollflüge und konnten nach drei Wochen allein losgelassen werden. Zeit, um als Fluglehrer den Pilotensitz gegen den Liegestuhl zu tauschen.
An den Wochenenden standen Zapfe und ich meistens in Andermatt auf den Brettern. Im kleinen Hotel «Bergidyll» belegten wir jeweils ein Doppelzimmer. Zum Tee schon spielte fetzige Musik zum Tanz auf. Wir wohnten am goldrichtigen Ort. Die Besitzerin, Frau Fryberg, eine ältere Witwe, empfing uns stets mit unübersehbarem Wohlwollen.
«Ihr werdet bei mir immer ein Zimmer haben, ihr zwei. Selbst wenn wir total ausgebucht sein sollten, besorge ich euch eins nebenan», beteuerte sie uns mehrmals. Unsere Frage, womit wir diese Gunst denn verdient hätten, beantwortete die Dame mit verträumtem Lächeln:
«Meine wirklich grosse Liebe, vor vielen, vielen Jahren, war ein Flieger, ein richtiger Pilot, ei, war das ein Mann!», schwärmte sie. Sonst komme man sich selbst so leicht aus dem Gedächtnis, doch daran erinnere sie sich, wie wenn es gestern gewesen wäre. Der Kerl sei, nach durchtanzter Nacht, ohne die Stiefel auszuziehen zu ihr ins Bett geschlüpft.
«Mei, war das ein Teufelskerl! Teufelskerle seid ihr, ihr Piloten…!», seufzte sie und schaute uns mit seltsam verklärtem Blick an. Worte aus berufenem Mund. Ein Glück, dass Frau Fryberg die Angewohnheit hatte, sich beizeiten zurückzuziehen. Ihr blieben dadurch einige eher peinliche, wenig Stil bildende Anblicke ihrer so bewunderten Spezis erspart.
Andermatt, Bergidyll, Ball der einsamen Herzen. Gefühle, die aufflackerten, aber meist nach einer Woche wieder in sich zusammenfielen. Es war eine verrückt gute Zeit, derweil sich der Bund, so quasi als «Schnäppchen», 100 Centurion Gebrauchtpanzer aus Südafrika für 300‘000 Franken das Stück beschaffte. Transport, Revision und Anpassung an Swiss Standard inbegriffen. Alles halb so teuer, wie ab Fabrik. John Glenn flog als erster Amerikaner ins All, dieweil Zapfe und ich in einem steilen Tessiner Hang herumstapften und das Geländeprofil für das Ferienhaus unseres Staffelhäuptlings aufnahmen.
Mitte März verschob sich die Schule nach Emmen, wo wir unverzüglich mit den Einführungsflügen auf dem Vampire Doppelsitzer begannen und es war dankbar, mit den Jungs dieses Neuland betreten zu dürfen. An einem schulungsfreien Tag plagte ich wieder einmal einen Venom durch sämtliche Disziplinen, um abschliessend via Ostschweiz und Bündnerland südwärts zu steigen. Die Flent waren leer und die abgespeckte Maschine kletterte wie ein Wiesel. Gute Aussichten, um an die Stratosphäre zu pochen und die 14‘000 Meter Marke einmal eindeutig zu übertreffen. Über Fusio, im oberen Tessin, kam alles anders.
«Pidü, pidü, pidü…!», erschreckte mich die Feuerwarnung! Mmm, muss das sein?, guckte ich fragend im Cockpit herum. Kein Rauch, nichts. Ich löste kurz die Maske, schnupperte, kein Brenzeln, nichts. Triebwerktemperaturen normal, Drehzahl gelb, Öldruck vorhanden, also alles im grünen Bereich? Mich erstaunte, wie ruhig ich die Leistung zurücknahm, mit Bug Richtung Emmen abzusinken begann und mich damit abfand, zum ersten Mal ein Flugzeug aufgeben zu müssen. Den störenden Warnton konnte ich abschalten, nur das Schauzeichen deutete darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung war. Nach kurzer Lagebeurteilung meldete ich meine Notsituation auf Welle «Berta» und gab meinen Entschluss, wenn immer möglich in Emmen zu landen, an den Stützpunkt durch. Mit trockenem Mund glitt ich ruhig atmend über den Gotthard dem Vierwaldstättersee zu. Die Uhr war im Krebsgang, der Tod mummelnd im Genick. Noch nie hatte ich so auf einem Pulverfass gesessen und obwohl ich bereit war, mich jederzeit abzuschiessen, schien mein Flugzeug noch nicht in Flammen aufgehen zu wollen. Nur im schlimmsten Fall werde ich die Leistung nochmals erhöhen, nahm ich mir vor, bloss das Feuer nicht schüren und aufgeben werde ich ihn eh erst, wenn es unter dem Hintern heiss wird. Ich glitt vorsichtig über die Rigi, blieb auf Distanz zu Luzern und näherte mich nach einer Ewigkeit der Gegengeraden. Niemand sah Rauch oder Feuer, weder der eben eintreffende Seb, der mein Flugzeug aus allen Lagen absuchte, noch die Leute vom Turm, die mich mit Ferngläsern verfolgten. Landekurve, Finale, alles sah gut aus, das Pikett stand mit Blaulicht bereit. Noch vor dem Aufsetzen schloss ich die Treibstoffzufuhr und während ich abbremste, raste die Feuerwehr nebenher und meldete: «Keine Anzeichen von Rauch oder Feuer, alles normal!» Erst die Triebwerkspezialisten stellten fest, dass die Dichtung einer Brennkammer durchgebrannt war und heisse Gase einiges angesengt und die Feuerwarnung ausgelöst hatten. Dabei war es zum Glück geblieben. Es war in jener Nacht, wo mich dieses «Pidü, pidü, pidü…!» nochmals aufschreckte und ich schweissgebadet nach dem Lichtschalter tastete.
Text: Werner Alex Walser Fotos: Werner Alex Walser, Archiv Flieger Flab Museum